Jetzt mal nur dieses wichtige Gespräch.
Ab hier ist kein Wort mehr von *mir:
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Teaser: Der Meeresspiegel, die Wirtschaft, die Digitalisierung: Ständig heißt es, etwas wachse oder steige „exponentiell“ an. Aber was heißt das wirklich? Ein Gespräch mit dem Soziologen Emanuel Deutschmann.
Interview von Marie Gundlach, 7. August 2025 | Lesezeit: 8 Min.
Wir leben in einer Welt des Wachstums: Die Wirtschaft wächst, die Weltbevölkerung wächst – es steigt aber auch die Temperatur, ebenso wie der Meeresspiegel. Gemeinsam haben viele dieser Entwicklungen, dass sie „exponentiell“ anwachsen. Nur was heißt das eigentlich genau? Für die Menschheit? Und unseren Planeten? Der Flensburger Soziologe Emanuel Deutschmann hat diesen Fragen ein ganzes Buch gewidmet: „Die Exponentialgesellschaft“.
SZ: Herr Deutschmann, Ihr Buch beginnt mit einem Zitat des Physikers Albert Bartlett, der einmal sagte: „Die größte Schwäche der Menschheit ist ihre Unfähigkeit, die Exponentialfunktion zu verstehen.“ Können Sie diese in einem Satz erklären?
Emanuel Deutschmann: Exponentiell nennt man eine Entwicklung, wenn eine bestimmte Größe über eine längere Zeit mit einer bestimmten Rate wächst.
Konkreter ausgedrückt – ist es wie beim Gehalt, jeden Monat eine Summe X?
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Nein, so funktioniert es genau nicht. Ihr Lohnkonto wächst linear. Mit linearen Entwicklungen tun sich Menschen leichter, es ist auch einfacher. Angenommen, Sie bekommen jeden Monat 3000 Euro Gehalt. Das ist ein fester Betrag – ganz egal, wie viel Geld Sie schon haben. Exponentielles Wachstum funktioniert eher wie Zinsen: Je mehr ich schon habe, desto mehr kommt auch dazu. Deswegen sprach ich in meiner kurzen Definition oben von einer Rate des Wachstums, nicht von einem bloßen Betrag.
Können Sie das mit einem Beispiel noch etwas erläutern?
Gern. Sagen wir: Die Weltwirtschaft wächst um etwa 3,35 Prozent pro Jahr. Wenn sie also im einen Jahr ein Volumen von 100 Milliarden Dollar hat, dann würden daraus bis zum nächsten Jahr schon 103,35 Milliarden Dollar. Nun wächst die Wirtschaft wieder um jährlich 3,35 Prozent, aber nicht mehr ausgehend von 100 Milliarden, sondern eben von 103, 35 Milliarden. Es kommen also nicht nur 3,35 Milliarden Dollar dazu, sondern schon 3,46 Milliarden.
Und dieser Zuwachs wird mit jedem weiteren Jahr größer und größer?
Genau. Der wichtige Unterschied zwischen linear und exponentiell ist, dass exponentielles Wachstum in Prozent angegeben wird, und nicht in absoluten Zahlen – weil sich, wie in unserem Beispiel, diese absoluten Zahlen die ganze Zeit ändern. Das bedeutet dann, dass die Weltwirtschaft nicht so gradlinig ansteigt wie zum Beispiel ein Vermögen, zu dem jeden Monat 3000 Euro dazukommen. Exponentielle Größen entwickeln sich in einer immer steiler werdenden Kurve. Ganz vereinfacht betrachtet gibt es da drei Phasen.
Erst sieht es lange so aus, als würde relativ wenig passieren, im Rückblick fast eine Stagnation.
Irgendwann erreicht die Größe dann ein Volumen, wo Veränderungen sichtbar und spürbar werden. Das ist der Take-off.
Und der geht dann in eine Phase über, wo die Größe im Grunde explodiert, diesen Abschnitt habe ich die „vertikale Phase“ getauft. Weil die Kurve dort fast senkrecht nach oben schießt.
Um mal klarzumachen, was das ganz konkret heißt: Bei einem Wachstum von unseren 3,35 Prozent oben hätte sich die Weltwirtschaft nach etwa 21 Jahren verdoppelt – und nach 100 Jahren sogar versiebenundzwanzigfacht. Dann wären aus den 100 Milliarden Dollar schon 3,2 Billionen Dollar geworden.
Das ist eine Menge Geld.
Allerdings. Eine irre Dynamik. Deshalb kommt vielen exponentielles Wachstum auch so paradox und kontraintuitiv vor: Selbst wenn eine Entwicklung gerade noch träge oder sogar stabil erscheint – alles kann schon in wenigen Jahren explodieren, wenn das Wachstum exponentiell voranschreitet.
Sie sagen nun, dass es auch politisch ein Problem ist, wenn die meisten Menschen Exponentialität nicht wirklich verstehen. Warum?
Nehmen wir die Corona-Pandemie. So ein Virus breitet sich nicht linear aus, sondern exponentiell. Eine Studie wies nach, dass Menschen eher bereit waren, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, wenn sie verstanden hatten, wie exponentielles Wachstum funktioniert.
Was wächst, abgesehen von Viruserkrankungen und der Wirtschaft, in unserer Welt denn noch so exponentiell?
Zu viel. Der Energieverbrauch zum Beispiel. Oder die anthropogene Masse, also die Menge an menschengemachtem Material wie Beton oder Asphalt. Aber auch Treibhausgase, die globale Durchschnittstemperatur, Plastikproduktion. Es betrifft wirklich so gut wie alle großen Bereiche unseres Lebens: Mobilität, Ökologie, Wirtschaft, pandemische Krisen, Kommunikation, Technik. Um nicht nur Negativbeispiele zu nennen: Der Preis für die Herstellung von Solarpanels ist exponentiell gefallen, die Menge an gewonnener Solarenergie exponentiell gestiegen. Exponentielles Wachstum ist also nicht per se schlecht.
Nun sind das alles Bereiche, die auf die eine oder andere Weise durch den Menschen beeinflusst werden. Kommt exponentielles Wachstum auch natürlich vor?
Ja, bei Tierpopulationen zum Beispiel. Viren breiten sich ja nicht nur unter Menschen exponentiell aus, sondern auch unter Tieren. Antikörper ebenso. Aber als Soziologe interessieren mich natürlich die Entwicklungen vor allem in der Gesellschaft. Dort, und das ist vielleicht ein Unterschied zur Natur, beobachten wir aktuell einfach eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen exponentiellen Trends in zentralen Bereichen, die miteinander interagieren, sich zugespitzt haben und so Krisen und Probleme verursachen.
Viele Krisen entwickeln sich exponentiell …
Genau. Die Zerstörung natürlicher Lebensräume, die Massentierhaltung und der Fleischkonsum einer wachsenden Menschheit erhöhen die Gefahr für Zoonosen. Das wiederum erhöht die Gefahr für Viruserkrankungen auch beim Menschen. Die breiten sich zusätzlich durch die wachsende Bevölkerungszahl und wachsende Mobilität, etwa in Form von Flugreisen, schneller auf dem Planeten aus. Mehr Mobilität ist nur möglich durch mehr Wirtschaft und Innovation, befeuert aber auch den Klimawandel. So könnte man die Verkettungen und Zusammenhänge jetzt ewig fortsetzen. All diese Größen wachsen exponentiell und betreffen den ganzen Globus. Deshalb spreche ich von einer Exponentialgesellschaft: weil unser gesamtes Zusammenleben seit einigen Jahrzehnten durch Exponentialität geprägt wird.
Seit wann genau?
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Es ist nicht ganz einfach, einen genauen Startpunkt zu nennen, weil nicht alle Trends gleichzeitig starten oder sich gleich schnell entwickeln. Ich würde sagen, der Take-off startete so Mitte des 19. Jahrhunderts mit der frühen Industriegesellschaft. Seit den Siebzigerjahren sind wir jetzt in diesem Bereich, den ich die „vertikale Phase“ nenne, also die Phase, in der viele Größen explodieren. Die Leichtigkeit, die es vielleicht in den Neunzigern noch gab, ist vorbei. Auch wenn es damals schon Warnungen davor gab, was die Folgen von unkontrolliertem Wachstum sein können.
Das klingt nach klassischer Kapitalismuskritik.
Der Kapitalismus ist ein zentraler Motor in der Exponentialgesellschaft. Aber sie geht darüber weit hinaus. Die Weltbevölkerung, neue Technologien und Wissenszuwächse, pandemische Krisen – solches Wachstum lässt sich nicht auf den Kapitalismus reduzieren.
Emanuel Deutschmann: Die Exponentialgesellschaft. Vom Ende des Wachstums zur Stabilisierung der Welt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 442 Seiten, 32 Euro.
Wachstum ist in der Gesellschaft ein eher positiv besetzter Begriff. Wohlstand, Lebenserwartung, wir wünschen uns Wachstum in vielen Bereichen. Ist das schlecht?
Wachstum ist nicht per se gut oder schlecht. Der Anstieg von Solarenergie zum Beispiel ist ja eine gesellschaftlich gewünschte und sinnvolle Entwicklung. Aber Wachstum ist eigentlich nicht die Regel.
Nein?
Wenn man sich die Menschheitsgeschichte anguckt, sieht man: Die längste Zeit gab es kein Wachstum, sondern Stagnation. Deshalb habe ich auch ein Problem mit dem Begriff Anthropozän. Weil ja der Mensch, also Anthropos, im Zentrum steht, als hätte er diese ganzen Verwerfungen hervorgebracht. Dabei hat die Menschheit über Jahrtausende eher in stabilen Zeiten gelebt. Stagnation ist der Normalzustand. Explosives Wachstum ist die Ausnahme. Insbesondere in einer Welt mit begrenzten Ressourcen.
Das heißt, irgendwann ist Schluss?
Für jede Größe gibt es natürliche Grenzen, es kann also durchaus passieren, dass sich Trends auf die eine oder andere Art selbst stabilisieren. Aber: Wir wünschen uns ja Stabilität in einem Bereich, in dem menschliches Leben auf diesem Planeten noch möglich ist. So eine gezielte Stabilisierung funktioniert nur durch gesellschaftliche Steuerung.
Also Degrowth, das Gegenteil von Wachstum?
Ich spreche lieber von Stabilisierung.
Warum?
Zum einen, weil Degrowth nach Verlust, nach Einschränkung klingt. Stabilisierung ist deutlich positiver besetzt, durch alle politischen Lager hinweg. Im letzten Bundestagswahlkampf hat sowohl die Linkspartei mit dem Begriff „stabil“ gearbeitet als auch die CDU. Und: Degrowth impliziert, dass wir etwas aktiv abbauen, es also weniger wird. Eine Stabilisierung kann dagegen auf verschiedenen Niveaus erfolgen. Auch Größen, bei denen Wachstum grundsätzlich gewollt ist, müssen irgendwann stabilisiert werden, wenn ein weiteres Wachstum nicht mehr sinnvoll oder möglich ist.
Bei diesen Größen strebt man eine Stabilisierung auf hohem Niveau an. Die gesellschaftliche Abdeckung mit Kühlschränken oder Mobiltelefonen zum Beispiel – irgendwann sind da alle versorgt.
Es ist aber auch eine Stabilisierung auf mittlerem Niveau möglich. Die Zahl der Urlaubsflüge und umweltschädlichen Kreuzfahrten zum Beispiel muss reduziert werden, da sind wir einfach übers Ziel hinausgeschossen. Aber manche internationalen Reisen bleiben natürlich weiterhin unverzichtbar.
Eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau ist etwa beim CO₂-Ausstoß das Ziel, wo man so schnell wie möglich bei Netto-Null landen muss.
Aber egal auf welchem Niveau: Eine von Menschen aktiv angestrebte Stabilisierung ist extrem fragil.
Haben wir Menschen so etwas denn schon mal geschafft?
Ein schönes Beispiel für eine gesellschaftlich gelungene Stabilisierung von einer Exponentialkurve ist das Treibhausgas FCKW. Im Nachhinein erscheint das als relativ kleines Problem, aber eben nur, weil rechtzeitig gehandelt wurde. Sonst wäre das Gas schon 1989 ein größeres Problem gewesen als Kohlenstoffdioxid. Über weite Teile des 20. Jahrhunderts ist die globale FCKW-Produktion exponentiell angestiegen, bis es dann eine wissenschaftliche Studie gab, die die Auswirkungen von FCKW auf die Umwelt aufgezeigt hat. Daraufhin haben sich Staaten weltweit zusammengeschlossen und ein Abkommen geschlossen, um die Herstellung von FCKW zu verbieten. Die ist heute im Grunde bei null. Das wäre ein Beispiel für eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau.
Das klingt heute wie ein Märchen. Inzwischen können sich Regierungschefs ja nicht mal darauf einigen, dass es den menschengemachten Klimawandel gibt.
So eine menschengemachte Stabilisierung ist fragil, sogar sehr fragil. Es gibt auch gesellschaftliche Akteure, die ein Eigeninteresse an weiterem Wachstum haben und gar nicht daran denken, Probleme stabilisatorisch einzufangen. Dieses expansionistische Lager ist momentan relativ mächtig und dominiert den Diskurs sehr stark, allen voran Donald Trump.
Oder ist das Stabilitätslager einfach zu leise?
Die Wissenschaft ist da in einem Dilemma. Es gehört zu ihrer Rolle, auf diese Krisen zu verweisen. Aber wer sich dabei zu sehr exponiert, muss mittlerweile eben auch persönliche und berufliche Konsequenzen befürchten. Und auch die mediale Aufmerksamkeit ist nicht mehr so groß, wie sie es noch während der Pandemie war, oder 2019, als die Klimabewegung so medial und gesellschaftlich präsent war. Es werden immer noch Appelle formuliert und unterzeichnet, aber die verhallen.
Sind die Szenarien, die die Wissenschaft anbietet, einfach nicht sexy genug?
Das kommt drauf an, was man womit vergleicht. Klar, Stabilisierung ist anstrengend, ist schwierig. Aber das, was die expansionistische Seite vermeintlich anbietet, nämlich ein „Weiter so“, ist kein realistisches Zukunftsszenario. Das kann man gar nicht oft genug betonen. Der ehrlichere Vergleich ist: Entweder wir schaffen ein Situation, in der man gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich zusammenarbeitet, um eine nachhaltige Stabilisierung auf sicheren Niveaus zu ermöglichen. Oder wir driften in eine unkontrollierte Spirale, die viel menschliches und tierisches Leid erzeugt. Das sollte eigentlich niemand wollen.
Im Alltag das System verändern – das klingt doch sehr idealistisch.
Nun, Einzelne können aber doch auch etwas bewirken. Und zwar weil es acht Milliarden Einzelne auf der Erde gibt, und nicht obwohl es acht Milliarden gibt. Beim Tesla-Boykott hat man gesehen: Auch als Individuum kann ich das expansionistische Lager schwächen. Das eigene Konsumverhalten, politisches und gesellschaftliches Engagement, wir haben viele Stellschrauben, an denen wir drehen können. Balkonkraftwerke sind ein ganz praktisches Beispiel dafür.
Aber ein bisschen Solar im Garten reicht doch nicht.
Klar, es muss auf allen Ebenen gleichzeitig etwas passieren. Die Politik muss regulatorisch eingreifen, nicht nur bei Individuen, sondern vor allem auch bei Unternehmen. Nachhaltige Alternativen müssen gefördert werden. Die Politik muss es den Individuen leichter machen, das Richtige zu tun.
Also warten wir doch erst auf neue Gesetze?
Viel zu oft werden diese Ebenen gegeneinander ausgespielt. Die einen sagen: Es muss erst was politisch passieren, als Individuum erreiche ich nichts. Und die Politik sagt: Die Leute wollen das nicht, da können wir nichts machen. Diese gegenseitige Lähmung ist fatal. Und weil wir uns in dieser vertikalen Phase befinden, muss jetzt vor allem schnell was passieren.
Und das halten Sie noch für möglich?
Es ist eine Riesenaufgabe, keine Frage. Hoffnung macht, dass sich auch stabilisatorische Gegentrends mit exponentieller Geschwindigkeit entfalten können.
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