Auch Heute ein Gespräch, das *ich zu wichtig finde, als dass es für *mich und die paar Leses aus dem Blick gerät.
Es geht dabei zwar um das antike Athen, aber, wie Sie unten erlesen werden, sind die Erkenntnisse daraus sehr aktuell.
Ich stelle hier einen langen Auszug ein. Es sind die ersten paar Seiten des Gesprächs. Das ganze Gespräch ist bei Merkur online frei zugänglich.
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Merkur, Heft 915, August 2025
Christian Meiers »Athen« in der Ära Trump
Ein Lektüregespräch
von Helmut Müller-Sievers (HMS), Greg Laugero (GL)
https://www.merkur-zeitschrift.de/artikel/christian-meiers-athen-in-der-aera-trump-a-mr-79-8-34/
Neben unserem gemeinsamen Studium der griechischen Grammatik und der Lektüre griechischer Philosophen und Tragiker habe ich – Literaturwissenschaftler mit lebenslangem Interesse an der Tyrannei der Griechen über die Deutschen (so der Titel von Eliza M. Butlers scharfsichtigem Buch aus dem Jahr 1935), seit 1986 in den USA lebend und forschend – mit Greg Laugero, einem in Englischer Literaturgeschichte promovierten Software-Unternehmer im Vorruhestand, Christian Meiers epochemachendes Buch Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte über Anfang, Blüte und Untergang der athenischen Demokratie gelesen. Wir hatten unsere Lektüre vor der Wahl im November 2024 begonnen, mussten danach aber feststellen, dass Meiers Beschreibungen und Einsichten unsere Gegenwart schmerzhaft und nahezu unheimlich berührten.
Da Greg das Buch auf Englisch las, wollte ich zunächst auf seinen Gesamteindruck zu sprechen kommen.
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Fragilität
HMS: Wir haben in den letzten Jahren oft über Hegels Philosophie der Geschichte und seine Gegenspieler Marx, Lyotard und Fukuyama gesprochen. Ich maße mir nicht an, zu bestimmen, wo genau Christian Meier sich geschichtsphilosophisch verortet, doch wer 1993 in Deutschland über Aufstieg und Fall der Demokratie im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts schreibt, der fordert einen Vergleich mit seiner Gegenwart und mit anderen Geschichten der Demokratie heraus, die in der athenischen Demokratie ein frühes, aber für den Westen maßgebliches Aufblitzen der Macht rationaler Politik über das Schicksal sehen. Glaubst Du, Meiers Buch ist ein weiterer Beitrag zu dieser Triumphgeschichte? Oder wundert sich Meier über die Einzigartigkeit dieses historischen Ereignisses? Oder spürt man vielleicht schon einen Anflug von Trauer darüber, dass diese Epoche so schnell vorbeigegangen ist?
GL: Wunder, Triumph, Trauer und Vergänglichkeit sind alle lesbar in diesem wunderbaren Buch. Es ist eine sehr komplexe Geschichte, und Meier war ganz offensichtlich nicht willens, diese Komplexität zu glätten. Die Lektüre während des Wahlkampfs und in den ersten Monaten der Trump-Regierung hat zunächst das Thema der Fragilität in den Vordergrund gerückt.
Ich bin politisch in den achtziger Jahren Ronald Reagans groß geworden; meinen High-School-Abschluss habe ich 1983 gemacht, das College 1987 abgeschlossen. Wir alle haben Fukuyamas Optimismus geteilt, dass nach 1989 nicht nur das Ende der Weltbedrohungen durch Kriege gekommen sei, sondern dass sich die Vereinigten Staaten diese Erleichterung auch durchaus zugutehalten konnten. Der Fall der Mauer schien uns also nicht nur das Ende des Kalten Krieges anzuzeigen, sondern das jeden Krieges, für immer. Man muss Fukuyama allerdings zugestehen, dass er die Zerbrechlichkeit dieser neuen Weltordnung früher sah als die meisten Neocons.
Meier beschreibt eben diese Zerbrechlichkeit, und heute liest sich sein Athen, als sei es als bewusste Mahnung geschrieben worden. Inmitten der aktuellen Zerstörung unserer republikanischen und akademischen Institutionen habe ich mich an die Federalist Papers (1787/88) erinnert, die geschrieben wurden, um für die Ratifizierung der Verfassung zu werben, die die viel schwächeren Konföderationsartikel von 1781 ersetzen sollte. Die Autoren sahen und fürchteten eben die Fragilität der antiken Demokratien, die auch Meier herausstellt. In Federalist No 9 äußert sich Alexander Hamilton ganz wie Meier in seiner Einschätzung der »kleinkarierten Republiken in Griechenland und Italien«: »Wenn es bei ihnen gelegentlich Ruhe gab, dann nur als kurzfristigen Kontrast zu den wütenden Kämpfen, die darauf folgten.« Er ist sehr unnachgiebig in dieser Kritik. Die Federalists wollten das Experiment einer »republikanischen Regierung« fortsetzen und sich gleichzeitig gegen die Schwächen, die sie bei den Griechen und Römern sahen, absichern. Hamilton entwarf eine geschichtliche Perspektive, in der Institutionen gestärkt würden, die die Gewaltenteilung sichern könnten. Liest man Meier zusammen mit diesen wichtigen Essays, während um uns herum diese Institutionen zusammenbrechen oder zumindest wanken, sieht man, dass wir alle zu optimistisch waren, dass die Schwäche der institutionellen Demokratie durch die Verfassung endgültig überwunden worden sein könnte.
Zorn, Ressentiment, Demokratie
HMS: In der deutschen humanistischen Tradition, in der ich aufgewachsen bin, wurde die athenische Demokratie immer dargestellt als politischer Ausdruck des gleichen maßvollen Strebens nach Freiheit und Schönheit, das in der griechischen Architektur, in der Skulptur, Poesie und Philosophie anschaulich wird. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, so wurde uns später klar, war diese Vision selbst von der Bestrebung getrieben, Tyrannei und Oligarchie als dem griechischen Wesen fremde Tendenzen auszugrenzen. Alles, was dem ursprünglichen Durst nach Freiheit und der Liebe zur demokratischen Meinungsbildung zuwiderlief, wurde entweder in die Archaik vor dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeit verbannt oder Außenseitern zugeschrieben, denen der griechische Geist fremd war. Meier nun benötigt so viele Seiten, um die destruktive Gewalt in den vorigen Regierungsformen darzulegen, aus denen sich die Demokratie langsam herauswindet, dass man den Eindruck gewinnt, die hohe Zeit des Perikles mit ihren radikalen demokratischen Institutionen (die allerdings Frauen, Metöken und Sklaven ausschlossen) sei eher der Erschöpfung und der Entschärfung dieser Gewalt geschuldet. Es gab einfach nicht genug Männer, deren Verlust in Fehden und Verbannungen die Polis sich hätte leisten können.
Meier zeigt ausführlich, wie die Griechen zwischen zwei Formen von Gewalt unterschieden – »gute« kollektive Gewalt, die ihren Platz auf dem Schlachtfeld hat, die sich gegen Angreifer von außen wendet und die gleichzeitig eine soziale Rangordnung herstellt, die nicht mehr nur auf dem Privileg der Geburt basiert, gleichzeitig aber immer noch extrem grausam und vor allem unbarmherzig ist, und »schlechte« individuelle oder Klan-Gewalt, die, zumal als Rache, die Selbstkonstitution des Staates verhindert. Demokratische Politik, so Meier, gibt es erst mit beziehungsweise nach der Suspension von Rache, und die wiederum impliziert die Akzeptanz von Institutionen, die über brudermörderische Gewalt reflektieren, sie abmildern oder rekodieren. Die Tragödie und die Homerischen Epen, auf denen sie basieren, sind hier ebenso wichtig wie die nichttödlichen Wettbewerbe der Athletik, des sympotischen Trinkens und der rhetorischen Debatte. Die fundamentale Neuerung der Demokratie – die Isonomie, die Übereinkunft, dass ein Gesetz, einmal erlassen, für alle gleich gilt – wurde in diesen Wettbewerben eingeübt: Sie hielten die Gewalt in Schach, die in früheren Regierungsformen das Zusammenwachsen der Polis zur selbstbewussten Einheit verhindert hatte. Diese Anfälligkeit der Demokratie für den Geist der Rache ist heute besonders schmerzhaft zu spüren.
In Meiers Darstellung ist die Demokratie also weniger eine hehre Entscheidung freier Individuen, sondern ein Mittel, Gewalt in Ehrgeiz umzumünzen und für die Polis nutzbar zu machen, zumal zu einer Zeit, da die Bedrohung durch einen vermeintlich übermächtigen externen und exotischen Feind die Einheit dieser Polis erzwang. Erst wenn die interne Form dieser – letztendlich aristokratischen – Gewalt unterdrückt und auf beratende Gremien verteilt wird, erst wenn der Ostrakismos, die Verbannung möglicher Usurpatoren, eingeführt wird, kann die Einbeziehung der gesamten Bürgerschaft (minus Frauen und Sklaven) in den Prozess der Beschlussfassung möglich werden. Es kommt mir nach der Lektüre so vor, um es noch einmal kurz zu sagen, als seien die Rekrutierung und ständige Beschäftigung der Bevölkerung, als sei der immense Aufwand an Zeit und Geld, den die Demokratie kostet, ein Mittel, um die männliche Bevölkerung von ihrer selbstzerstörerischen Gewalt abzuhalten und sie auf die halb mythische, halb imaginäre Einheit namens »Athen« einzuschwören. Sobald diese Anstrengung nachlässt, aufgrund von schwacher oder exzentrischer politischer Führung, dem Abnehmen der Bedrohung durch auswärtige Feinde, oder aufgrund von Naturkatastrophen (also genau der Trias von Entwicklungen, die uns heute begegnen), treten Gewalt und Grausamkeit wieder unverschämt auf.
GL: Es gab Momente, in denen ich das Buch aus der Hand legen musste, weil ich genau die Erschöpfung und den Schrecken empfand, von denen Du eben sprachst. Meier, das muss man ihm zugutehalten, drückt sich nicht vor der Analyse und Darstellung dieser entfesselten Gewalt. Ohne sie schlicht zu verurteilen, bewundert er die Bereitschaft der Griechen, diesem Gewaltpotenzial und dem Problem der individuellen oder kollektiven Verantwortlichkeit nachzuspüren. Sein Hauptbeispiel ist die Tragödie, doch sieht er die Homerischen Epen als frühe Stufen in diesen Abgrund. »Wie sehr haben die homerischen Helden, ihre großen Vorbilder, den Krieg verflucht – und dann notgedrungen immer wieder geführt!« Erst als ich Meier las, wurde mir klar, dass »Vorbild« nicht unbedingt im guten Sinne gemeint sein muss, dass die Ilias durchaus als abschreckendes Beispiel gelesen werden kann und dass die Griechen vielleicht ein viel klareres Verständnis dieser grundlegenden, ansteckenden und überall lauernden Gewalt hatten.
Meier spricht es zwar nicht direkt aus, doch das berühmte erste Wort (und das Thema) der Ilias ist mēnis (μῆνις). Es kommt allerdings in den Tragödien vor, die er ausführlich interpretiert – Die Schutzflehenden, Die Choephoren und Die Eumeniden von Aischylos sowie Die Herakliden des Euripides. In der Ilias ist mēnis eine reaktive Kraft, eine Manie, die Götter und Helden gleichermaßen erfasst, wann immer sie glauben, sie seien gekränkt oder beschämt worden. Sie führt dann zu wüster und wahlloser Zerstörung. Ich weiß nicht, wie das Wort ins Deutsche übersetzt wird (»Zorn« oder »Groll«, HMS); die beste Übersetzerin ins Englische, Emily Wilson, gibt es mit »cataclysmic wrath« wieder. Mēnis ist keine Emotion wie Ärger, kein Gefühlszustand wie Ressentiment, es ist viel eher eine Art kosmische Disposition. Für Aischylos fließt sie von den Göttern zu den Menschen; sie dominiert seine Orestie und endet für ihn erst, wenn die Erinnyen die neuen demokratischen Institutionen akzeptieren.
Deshalb wird sie auch wieder sichtbar, als diese Institutionen zu schwächeln beginnen. Kleon, über den wir noch sprechen werden, ist nach Meier der erste postperikleische Politiker – ein Populist, der mit den Ängsten und dem überzogenen Ehrgefühl der Volksversammlung spielt, um eine gänzlich prinzipienlose politische und militärische Strategie zu verfolgen. Aristophanes und Thukydides sind schockiert von seiner Vulgarität und Ruchlosigkeit. Das ist der Zeitpunkt, an dem mēnis wieder ausbricht. Meier macht das deutlich an der Art und Weise, wie Kleon die Volksversammlung dazu anstachelt, die Bürger von Mytilene auszumerzen, weil sie vom Seebündnis abgefallen sind. »Als die Mytilenäer sich ergeben hatten, wurde dort beschlossen, nicht nur die Schuldigen, sondern sämtliche Männer der Stadt umzubringen, Frauen und Kinder in die Sklaverei zu verkaufen.« Selbst kühlere Köpfe konnten das Massaker nicht verhindern. Wie um zu zeigen, dass dieser Grad von Gewalt kein Einzelfall war, geschah den Bewohnern der Insel Melos ein paar Jahre später das Gleiche. Ebenso beunruhigend ist die Stelle, an der Meier beschreibt, wie Kleon auf die Kritik an diesem Massaker reagiert. »Entweder die Herrschaft müsse in aller Schärfe ausgeübt werden oder die Athener sollten sie aufgeben und künftig den Biedermann spielen.«
Hier in den USA ist es zum Gemeinplatz geworden, den Aufstieg der harten Rechten einer Spielart des Nietzscheschen Ressentiments zuzuschreiben. Fukuyama hat darüber gerade erst wieder geschrieben.2 Selbst nach dieser Wahl erklärt er Donald Trumps Verhalten mit einer Psychologie des Ressentiments und dem Hunger nach Anerkennung. Für mich stellt sich die Frage, ob dieser Begriff hier angebracht ist, da er bei Nietzsche doch eine Rachelust beschreibt, die nicht handeln kann. Diese Unfähigkeit bohrt sich dann in das Selbst als Gift der Dekadenz. Eine ehrliche Frage an Dich, weil wir Nietzsche zusammen gelesen haben und er in Meiers Buch ständig präsent ist: Wenn Ressentiment sich plötzlich in der Kontrolle der Staatsmacht wiederfindet, ist es dann immer noch reaktives Ressentiment, oder ist es vielleicht eher mēnis, die sich hier ausagiert? Ich frage das auch, weil für Nietzsche (und für Scheler) Ressentiment immerhin eine Art moralischen Kompass mit sich führt, denn es schafft ja Werte, auch wenn diese Werte als Trost für die Unfähigkeit zu handeln fungieren. Mēnis hingegen hat keine moralischen Richtlinien und keine Werte. Das Fehlen dieser Richtlinien scheint mir zentral zu sein in Meiers Darstellung der beiden Männer, Kleon und Alkibiades, die den Kollaps der demokratischen Übereinkünfte vorantreiben. In gewisser Weise bezeugt ihr Auftreten, dass die Wiederkehr unkontrollierbarer mēnis, wie Du sagtest, eine Folge der Erosion demokratischer Institutionen ist.
HMS: Ich glaube auch, dass der Begriff des Ressentiments in diesem Fall das Potenzial für Gewalt und Zerstörung auf ein psychologisches Drama verkürzt. Es ist sicher richtig, dass diese Gestalten sich das Ressentiment der Menge zu eigen machen, es ist auch richtig, dass die offizielle Sprachregelung immer noch die des »taking back« und »making great« ist, doch sobald sie in einer Position wirklicher Macht sind, zeigt sich, dass die Frage, die die griechische Philosophie und mehr noch ihre idealistischen Deuter bewegt hat – gibt es auf Erden ein Maß? –, keine positive Antwort findet. Mēnis ist immens, sie ist der Erzfeind der Isonomie, der verbindlichen Gemeinsamkeit der Konvention, auf der die griechische Demokratie beruht. Ich wundere mich oft über die Präzision, mit der Trump jedes Gesetz, jede Gepflogenheit übertritt und beschmutzt, die in Washington den Umgang mit politischen Gegnern und ausländischen Besuchern über Jahrhunderte geregelt haben. Ich dachte erst, es sei eine Art antinomischer Impuls, und bei vielen seiner Anhänger und seinen Akolythen im Kongress ist das auch sicher der Fall: Jedes Gesetz, das von Demokraten je eingebracht wurde, muss allein deswegen aufgehoben werden. Aber Trump – und das macht ihn so unfassbar – hat nie innerhalb des Gesetzes gelebt; er wird von einem brodelnden Ärger getrieben, dem sich anscheinend niemand widersetzen kann. Er selbst kennt keine Grenzen – keinen Geschmack, keinen Anstand, keine Furcht, kein Bedauern, keine Liebe.
Bis hierher.
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Gewalt und Männer, ein natürliches enges Zusammenhang das auch aktuell immer offensichtlicher wird.
Wir bewegen uns als Menschheit immer mehr wieder auf das ungebremmste Männlichkeit zu.
Aufklärung passé! Jetzt geht es absolut verstärkt wieder um, wer ist der Stärkste und um Rache.
Die Superhelden-Comics, -Romane und vor allem Filme der vergangenen Jahrzeht haben dieses nätürliche Dummheit wach gehalten und unbewusst vorbereitet.

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